Prof. Dr. Ivo Große
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Institut für Informatik
Lehrstuhl für Bioinformatik
Woran arbeiten Sie in der Bioinformatik? Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte?
Die Bioinformatik ist eine relativ junge Disziplin. Als ich studierte, gab es sie noch nicht als eigenständige Disziplin. Sie ist erst basierend auf dem Wunsch der Menschheit entstanden, die molekulare Ursache für Krankheiten zu verstehen. Das ist ein großes Themengebiet, mit dem sich die Bioinformatik momentan sehr intensiv beschäftigt. Die Pflanzenzüchtung beziehungsweise die molekulare Pflanzenforschung ist das zweite wichtige Thema, mit dem wir uns befassen. Weltweit leiden mehr als 800 Millionen Menschen an Hunger, weil ihnen durch den Klimawandel die Nahrungsgrundlage entzogen wurde. Die Pflanzen vertrocknen und in der Pflanzenzüchtung geht es darum, den Menschen in den betroffenen Gebieten zu helfen.
Darüber hinaus ist die Umweltzerstörung, verursacht durch unseren „modernen“ Lebenswandel, ein wichtiger Aspekt. Wir versuchen zu verstehen, wie Biodiversität zerstört wird und was wir tun können, um sie zu retten. Selbst wenn wir den Umfang der CO2-Emissionen auf das Level des Jahres 1800 zurückfahren würden, könnte der in Gang gesetzte Prozess nicht aufgehalten werden. Das heißt, hier geht es im Bereich der Biodiversitätsforschung darum zu verstehen, wie die Prozesse funktionieren. Sowohl bei der Aufklärung der molekularen Ursachen von Krankheiten und bei der modernen molekularen Pflanzenforschung als auch bei der Biodiversitätsforschung geht es heute nicht mehr ohne Computer, es geht nicht mehr ohne Informatik. Das bedeutet, es werden Massendaten generiert, die analysiert werden müssen. Dazu brauchen wir hochkarätig ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in der Lage sind, die entsprechenden Algorithmen zu entwickeln und die entsprechenden Computerprogramme zu schreiben, die dann in diesen Forschungsgebieten gebraucht werden. Um diesen Nachwuchs auszubilden, gibt es den Studiengang Bioinformatik an unserer Universität.
Ihr Background und die genannten Forschungsschwerpunkte deuten auf ein sehr internationales Tätigkeitsfeld hin. Welchen Stellenwert hat Ihre Forschung im internationalen Maßstab, wie sieht Ihr Netzwerk aus und mit wem kooperieren Sie?
Das ist absolut richtig. Zum einen ist die Bioinformatik eine sehr interdisziplinäre Wissenschaft, zum anderen auch eine sehr internationale. Die Interdisziplinarität spiegelt sich nicht nur in der Forschung wider, sondern auch in der Lehre. Der Studiengang Bioinformatik wird an unserer Universität durch acht verschiedene Institute an drei verschiedenen Fakultäten getragen. Aber zurück zur Frage der internationalen Zusammenarbeit. Neben einem sehr umfangreichen und eng geknüpften nationalen Kooperationsnetzwerk verfügen wir auch über ein großes internationales Netzwerk.
Für die internationalen Kooperationsnetzwerke möchte ich ein paar Beispiele nennen. Die NASA betreibt seit einigen Jahren das sogenannte Gen-Lab-Programme. Dort werden molekularbiologische Experimente durchgeführt, sowohl in der Internationalen Raumstation ISS, als auch auf der Erde und man versucht, in verschiedensten Systemen und Prozessen die Auswirkungen von Schwerkraft auf molekularbiologische Prozesse zu verstehen, aber auch die Auswirkungen von Strahlung. Es gibt dort ein internationales Expertenteam beziehunsgweise Konsortium, das sich hauptsächlich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Nordamerikas zusammensetzt. Aus Europa sind drei Länder vertreten – Großbritannien, Spanien und Deutschland. Für Deutschland sind wir von der Martin-Luther-Universität mit dabei, und zwar sind wir Teil der sogenannten Data Analysis Working Groups.
Im Bereich der Biodiversitätsforschung möchte ich als nächstes das iDIV, das Deutsche Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung, nennen. Das iDIV ist auch ein international sichtbares Netzwerk. Ich bin vom Leben mit der Möglichkeit beschenkt worden, 2012 Geburtshelfer und eines der Gründungsmitglieder des iDIV werden zu dürfen. Und in dem Bereich spielt die Bioinformatik eine ganz zentrale Rolle. In einem weiteren internationalen Projekt, dem „OneKP-Project“, sind 1.000 Pflanzengenome – im Fachjargon 1.000 Pflanzentranskriptome – sequenziert worden, und zwar mit dem Ziel, die Evolution der Pflanzen besser zu verstehen oder zu beginnen, sie zu verstehen. Dabei ist uns eine interessante Entdeckung gelungen. Wir haben uns gefragt, wie die Regulation der Gene, also das kontrollierte und orchestrierte An- und Abschalten der Gene, welche letztendlich dafür verantwortlich ist, dass unsere Zellen, Organe und Organismen genau das tun, was sie tun und somit auch verantwortlich ist für Krankheiten, funktioniert. Diese Gene treten in Genfamilien auf, die evolutionär entstanden sind. Im Rahmen des internationalen Großprojektes entdeckten wir, dass diese Genfamilien nicht kontinuierlich wachsen, sondern sprunghaft, und die zweite interessante Entdeckung war, dass dieses sprunghafte Wachsen in den Hunderten, fast Tausenden verschiedenen Genfamilien orchestriert war. Die Sprünge traten nicht gleichverteilt in verschiedenen Zeitepochen der Evolution auf, sondern gewissermaßen orchestriert, und jetzt wollen wir natürlich genauer verstehen, worum es hier geht. Das ist ein Beispiel für ein internationales Projekt, das am Ende nicht nur im Fachmagazin NATURE publiziert wurde, sondern sogar als Titelstory von NATURE erschien.
Das alles sind Beispiele, die illustrieren, dass das, was wir hier auf dem Campus tun, international wahrgenommen wird. Das sind Projekte, die nicht nur wir als Bioinformatikerinnen und Bioinformatiker mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Ausland gemeinsam bewerkstelligen, sondern das funktioniert auch und vor allem auf Basis eines guten lokalen Netzwerks. In diesem Zusammenhang möchte ich die Kooperation mit meinem Kollegen Marcel Quint von unserer Naturwissenschaftlichen Fakultät III erwähnen. Diese ist ganz hervorragend vor über zehn Jahren entstanden und es war dieser fruchtbare Boden einer exzellenten Zusammenarbeit, der dazu geführt hat, dass wir überhaupt in der Lage waren, zu einem solchen internationalen Projekt – wie dem „OneKP-Projekt“ – beizutragen.
Was schätzen Sie besonders am Weinberg Campus?
Als ich mit meiner Familie 2007 nach Halle kam, stand für uns noch nicht fest, dass wir hier eines Tages alt werden würden oder wollten, aber genau das ist eingetreten. Man fragt sich, woran das liegt, und ich denke, der Campus trägt entscheidend dazu bei und zwar genau aus zwei Gründen. Das eine ist, es gibt eine wahnsinnig offene Atmosphäre. Die gibt es auch am California Institute of Technolgy, wo ich einmal das Glück hatte, für ein halbes Jahr als Gastprofessor forschen und lehren zu dürfen und woraus sich auch ganz fantastische internationale Projekte ergeben haben. Ich könnte mir vorstellen und das ist meine persönliche Hypothese, es sind die kurzen Wege, die diese offene Atmosphäre begünstigen. Wir in der Bioinformatik arbeiten sehr eng mit verschiedensten Kolleginnen und Kollegen zusammen und es macht einen großen Unterschied, ob man mal schnell anrufen und sagen kann: „Du, ich sehe hier gerade etwas hoch Interessantes auf dem Bildschirm. Hast du einen Augenblick Zeit, um vorbeizukommen?“ Und 10 Minuten später sitzt man zusammen, schaut sich auf dem Bildschirm die neuesten Ergebnisse, die aus dem Computer gepurzelt sind, an. Oder auch im Kontext von Brainstormings – man hat eine Idee, sagt „Mensch, hast du mal einen Augenblick Zeit?“ und schon sitzt man vor einem Whiteboard.
Man kann sich auch ganz hervorragend bei Waldspaziergängen durch die Dölauer Heide unterhalten, Konzepte und Forschungsideen entwickeln. Hier gibt es etwas, das den Standort attraktiv macht und das sind die kurzen Wege. Das sind die beiden Dinge, die ich wahrnehme. Die räumliche Nähe – wir haben das Uni-Klinikum nur 500 Meter entfernt, wir haben die Life Sciences konzentriert und verteilt auf verschiedene Fakultäten, das ist die Biochemie, das ist die Pharmazie, das sind die Agrarwissenschaften und die Ernährungswissenschaften, wir arbeiten eng mit den Geowissenschaften, wir haben hier die Physik, die Chemie, die Mathematik, die natürlich für uns ganz besonders wichtig ist, ebenso wie die Informatik. Das ist ein Supercampus und es ist die räumliche Nähe, die uns aufblühen lässt und die den fruchtbaren Boden bereitet, auf dem wissenschaftliche Ideen und Gedanken gedeihen.
Eine letzte Frage. Fällt Ihnen eine Anekdote ein, die Sie mit dem Campus verbinden?
Vielleicht eine Kleinigkeit, die komplementär sein könnte, zu dem, was bereits gesagt wurde. Der Campus und seine Atmosphäre, über die wir reden, ist eine Art ideelles Konstrukt. Aber es gibt ein sehr profanes, materielles Geheimnis, über das ich sprechen möchte: Es gibt einen Mirabellenbaum. Bei einem der Spaziergänge zwischen den Biowissenschaften und der Informatik bin ich vorbeigekommen und habe mich an den wunderschönen süßen Früchten laben können. Es ist einfach eine schöne Sache, dass dort wild Bäume auf unserem Campus austreiben und wachsen, die uns auch manchmal einfach Gaumenfreuden bescheren können. Und nun hoffe ich, dass nicht allzu viele Leute das Interview lesen und den Baum plündern.
(Das Interview wurde im August 2022 geführt.)
Prof. Dr. Ivo Große
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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