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30 Jahre Weinberg Campus: mRNA-Kompetenz wächst weiter

02.11.2023

Die Euphorie ist groß an der Saale. Während die Stadt Halle (Saale) Frühjahr den Zuschlag für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation erhalten hat, treibt der WACKER-Konzern im Technologiepark Weinberg Campus den Bau seines 100 Millionen Euro teuren mRNA-Kompetenzzentrums voran, und auf dem gesamten Gelände stehen die Baukräne nicht still.

Worin liegen die Gründe für die derzeitige Euphorie? – Die Situation mutet an wie eine zweite  Gründerzeit. In den 1990er und 2000er Jahren wurden die infrastrukturellen Grundlagen für die Verbindung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft am Campus gelegt. Heute scheint die kritische Masse erreicht, welche Wachstum und Ansiedlungen vor allem im Life-Science-Bereich beflügelt.

Wissenschaftliche Anfänge des Technologieparks
Wenn man die Sache chronologisch betrachtet, dann war zuerst die Wissenschaft am Standort, namentlich das Institut für Chemie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Die Protein- und Protease-Forschung hat eine 70-jährige Geschichte in Halle (Saale). Den Anfangspunkt der thematischen Entwicklungslinie bildete der Chemiker Wolfgang Langenbeck mit der Heterogenkatalyse, diese setzte sich mit der Entwicklung der Enzymologie fort.

Vom Chemischen über das Pharmazeutische Institut der MLU bis hin zur Biotechnologie in den 1980er Jahren eroberten die Naturwissenschaften Schritt für Schritt den Weinberg Campus. Außerdem entstanden in dieser Zeit zwei außeruniversitäre Forschungsinstitute, deren Nachfolger auch heute noch als international renommierte Institute der Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaft sowie Leibniz-Gemeinschaft existieren.

Insbesondere die Außenstelle Molekulare Wirkstoffbiochemie und Therapieentwicklung des Fraunhofer-Institutes für Zelltherapie und Immunologie IZI leistet heute wichtige Arbeit an der Schnittstelle zwischen Forschung und Unternehmen.

Größter Technologiepark Mitteldeutschlands
Seit 30 Jahren vollzieht sich am Weinberg Campus eine Entwicklung, die ihresgleichen sucht. Der Technologiepark ist heute ein bundesweit anerkannter Innovationsstandort für Life-Sciences, Biomedizin und Materialwissenschaften. Neben allen naturwissenschaftlichen Instituten der Universität, dem Universitätsklinikum und Instituten der vier großen außeruniversitären  Forschungseinrichtungen sind über 100 Technologieunternehmen angesiedelt. 300 Startups haben von hier aus den Weg in den Markt gefunden. Am Campus studieren, forschen und arbeiten insgesamt 15.000 Menschen in Zukunftsbranchen. Angelockt von der Forschungskompetenz haben sich in den letzten Jahren Konzerne wie WACKER, die japanische Denka-Group oder BioNTech niedergelassen. Bis 2030 sind übergreifend Investitionen in Höhe von 500 Millionen Euro in Forschungs- und Produktionsinfrastruktur geplant.

Der Weg zum unternehmerischen Erfolg
Eine der ersten Gründungen am Campus war das biopharmazeutische Unternehmen Probiodrug (heute Vivoryon Therapeutics). Basierend auf Forschungen zu Proteasen wurde ab 1997 durch die Gründer Hans-Ulrich Demuth und Konrad Glund die Basistechnologie zur Behandlung von Diabetes Typ II mit DPP-4-Inhibitoren entwickelt. Die Wirkstoffgruppe der DPP-4-Inihbitoren ist heute eine der umsatzstärksten im Markt. Der Verkauf der Franchise im Jahre 2004 an OSI Pharmaceuticals (heute Astellas) und der erfolgreiche Euronext-Börsengang im Jahr 2014 bildeten die Grundlagen für das heutige Unternehmen Vivoryon Therapeutics und seine weiteren Entwicklungen im Bereich Neurodegenration, Krebsbehandlung und Inflammation. Der Wirkstoff Varoglutamstat zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit befindet sich in der klinischen Testung.

Ebenfalls Ende der 1990er Jahre startete ein weiterer Hoffnungsträger des Campus‘, die Icon Genetics GmbH. Das von dem litauische Pflanzenphysiologen und Genetiker Yuri Gleba zunächst in Princeton (USA) gegründete Unternehmen wurde 2015 von der japanischen Denka-Group übernommen. Die Herstellung von Biopharmazeutika auf Basis der eigenen pflanzenbasierten Entwicklungsplattform soll zukünftig mit einer neuen Produktionsstätte auf dem Campus intensiviert werden.

Konzerne übernehmen Startups
Ausgangspunkt für die aktuell wachstumsstärksten Unternehmen am Weinberg Campus waren zwei Ausgründungen der Universität. Aus Scil Proteins wurde Navigo Proteins und mit Scil Proteins Production baute der WACKER-Konzern seine Biotech-Tochter am Standort Halle aus. Letztere erweitert gerade mit dem Zuschlag der Bundesregierung zur Pandemiebereitschaft im Eiltempo ihre Produktionskapazitäten. In dem Ausschreibungsverfahren hatte sich Wacker Biotech gemeinsam mit Corden Pharma für die Produktion von mRNA-Impfstoffen beworben und dafür als einziger Lohnhersteller den Zuschlag erhalten. Für den Ausbau zu einem so genannten mRNA-Kompetenzzentrum nimmt die Konzernmutter 100 Millionen Euro in die Hand. Das ist die größte Investition eines Unternehmens, die bisher am Weinberg Campus getätigt wurde. Die Bereitschaftsphase soll im Jahr 2024 beginnen. Bis dahin werden 200 neue Mitarbeitende eingestellt.

Im Falle einer neuen Pandemie sollen Wacker Biotech und Corden Pharma 80 Millionen Impfstoff- Dosen pro Jahr herstellen. Mit Navigo Proteins ist ein weiteres forschendes Biopharma-Unternehmen mit Wurzeln auf dem Campus klar auf Wachstumskurs. Die mittlerweile 65 Mitarbeitenden im Technologiepark konzentrieren sich zum einen auf die Entdeckung von proteinbasierten, also „bio“-pharmazeutischen Wirkstoffen und entwickeln diese zu innovativen Krebstherapien im Umfeld der Nuklearmedizin. Dabei erkennen die bei Navigo entwickelten Proteine mit hoher Präzision krebsartige Gewebe und Zellen, binden diese und entladen zielgerichtet eine therapeutische Wirkung. Im zweiten Geschäftsfeld werden Produkte zur vereinfachten Herstellung von Biopharmazeutika entwickelt. Das Unternehmen lieferte die Technologie für mittlerweile sieben Produkte, die weltweit bei der Produktion von biopharmazeutischen Medikamenten genutzt werden.

Seit Ende 2019 ist auch der BioNTech-Konzern mit seiner Tochterfirma BioNTech Delivery  Technologies am Weinberg Campus präsent. Der Mainzer RNA-Entwickler erwarb dabei Kern-Technologien der 2011 in Halle gegründeten Lipocalyx und übernahm den Standort mit allen Mitarbeitern und Erfahrungen, welche substanziell in die Entwicklung des Corona-Impfstoffes von BioNTech einflossen. Lipocalyx hatte bereits Jahre zuvor Lösungen für den Transport von RNA-Molekülen in die Zelle gefunden. Was die Natur elegant über Viren ermöglicht, schaute sich das Team um die Unternehmensgründer Steffen Panzner und Christian Reinsch ab, um mit sogenannten Viromeren, modifizierten Polymeren, das therapeutische Genmaterial an seinen Bestimmungsort zu geleiten.

Die nächste namhafte Ansiedlung am Weinberg Campus zeichnet sich bereits ab. Damit wächst im und um den Technologiepark Schritt für Schritt ein biopharmazeutisches Forschungs- und Produktionscluster mit internationaler Strahlkraft.

Die Vernetzung der Branche
Um die mit dem Wachstum verbundenen Herausforderungen, wie Fachkräftesicherung und Wissenstransfer zu meistern, wurde am Standort eine Clusterinitiative Life Science für Sachsen-Anhalt gegründet. Anfang dieses Jahres fanden sich über 20 Institute und Unternehmen zu einer landesweiten Initiative zusammen. Neben Akteuren vom Campus, wie der Martin-Luther-Universität, Wacker Biotech, dem Fraunhofer IZI und Fraunhofer IMWS, dem Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (IPB), Navigo Proteins, Nomad Bioscience oder Heppe Medical Chitosan sind unter anderem auch die Hochschule Anhalt, das Serumwerk Bernburg, Merz Pharma, Mibe und Salutas Pharma (Novartis) dabei. Der neue Branchenverbund des Bundeslandes wird mit guter Nord-Süd-Parität durch die Doppelspitze aus Grit Müller (Salutas Pharma) und Melanie Käsmarker (Wacker Biotech) geführt.

Beispiel für ein aktuelles Projekt mit RNA-Bezug ist der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit 6 Millionen Euro geförderte Forschungsverbund „ZielWirk“. Im Fokus stehen Hilfsstoffe, die die kurzlebige RNA stabilisieren und dafür sorgen, dass die Medikamente an der gewünschten Stelle im Körper wirken. Partner sind unter anderem zwei Cluster-Mitglieder vom Weinberg Campus: die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Institut für Pharmazie, Prof. Dr. Karsten Mäder) und die die Heppe Medical Chitosan (Geschäftsführerin Katja Richter), die damit die besondere Kompetenz der hiesigen Akteure in diesem Bereich unterstreichen.

Mehr Platz für Startups
Unterstützt durch den ersten branchenspezifischen Life-Science-Accelerator für Sachsen-Anhalt erhält auch die Startup-Szene in Mitteldeutschland wichtige Impulse. Um im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe bestehen zu können, müssen alle Rahmenbedingungen stimmen. Deshalb werden in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem Land Sachsen-Anhalt 78 Millionen Euro in zwei neue Gebäude für Startups investiert. Ehrgeiziges Ziel ist es, dass sich 200 Startups und Wachstumsunternehmen verschiedener Branchen – unter anderem aus Biotechnologie, Pharma, Medizin-, Umwelttechnik, Chemie, Bioökonomie – ansiedeln. Rund 1.000 Hightech-Arbeitsplätze sollen bis 2040 im Technologiepark Weinberg Campus und in der Region entstehen. Das heißt, auch in nächster Zeit werden sich die Baukräne auf dem Weinberg Campus weiterdrehen.

(Dieser Artikel erschien erstmalig im Weinberg Campus Magazin Ausgabe 1 / Juni 2023)